Das Konzept Industrie 5.0 ist weder eine Weiterentwicklung von Industrie 4.0 noch ein Ersatz. Es handelt sich vielmehr um eine ergänzende Herangehensweise im Rahmen der digitalen industriellen Revolution. Sie zielt darauf, den Fokus von einem ausschließlich technologischen Prozess zur Revolutionierung vorhandener Industrien auf den Einsatz von Technologie zu verlagern, um den menschlichen und umweltbezogenen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen.
„Unser Leben wird sich in den kommenden 20 bis 30 Jahren nicht grundlegend verändern – trotz der nahezu ununterbrochenen Beschwerden über fehlende Innovationen bei Solarzellen und Lithium-Ionen-Batterien, bei 3D-Druck (ob Kleinstteile oder ganze Häuser) sowie bei Bakterien, die Benzin synthetisieren können.“, How the World Really Works, Vaclav Smil
Während der Einsatz und die Bereitstellung modernster Technologien in den meisten Branchen unverzichtbar ist, um wettbewerbsfähig zu bleiben, ist doch mehr erforderlich als die Konzentration auf Innovation und die Optimierung des industriellen Ausstoßes. Eine sich im Wesentlichen auf den industriellen Ausstoß und den Profit konzentrierende Herangehensweise erweist sich zunehmend als ungenügend und berücksichtigt weder die Umwelt noch die für die Gesellschaft entstehenden Kosten in ausreichendem Maß.
Europa ist Pionier einer menschlich orientierten industriellen Revolution
„Industrie 5.0 berücksichtigt sich die Bedeutung der Industrie für das Erreichen der gesellschaftlichen Ziele jenseits von Arbeitsplätzen und Wachstum, damit sie zuverlässig zum Wohlstand beträgt. Zu diesem Zweck muss die Produktion die Grenzen unseres Planeten respektieren und das Wohlbefinden der Arbeiter zum zentralen Aspekt des Produktionsprozesses machen.“, Positionspapier der Europäischen Kommission zu Industrie 5.0.
Die derzeitigen Herausforderungen von Globalisierung, Klimaänderung, Produktion und Lieferketten haben uns gelehrt, dass Technologie nicht geeignet ist, die Probleme unserer Welt zu beheben. COVID-19 hat deutlich gemacht, dass wir unsere derzeitigen Arbeitsmethoden und Herangehensweisen neu bewerten müssen. Wir müssen in Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz investieren, ohne die Nachhaltigkeit und den menschlichen Faktor aus dem Auge zu verlieren.
Obwohl es uns gelungen ist, eine Milliarde Festnetzanschlüsse innerhalb einer Generation durch Mobiltelefone zu ersetzen, werden die Veränderung der Industrie und etablierter sozialer Interaktionen sowie die Handhabung der arbeitsplatzbezogenen Anforderungen nicht in einem vergleichbaren Zeitraum abgeschlossen werden können.
Deshalb hat die Europäische Union eine neue Herangehensweise entwickelt, die auf der Revolution der Industrie 4.0 basiert und diese um Kreislaufwirtschaft, menschenzentrierte Technologie, Nachhaltigkeit und Resilienz ergänzt.
Industrie 5.0 unterscheidet nicht zwischen Arbeitern und Angestellten. Die Grenzen zwischen unterschiedlichen Rollen, Positionen und Status der Mitarbeiter verschwimmen.
Die Europäische Union hat eine Liste von Technologien definiert, die geeignet sind, das Konzept Industrie 5.0 zu unterstützen:
- Menschenzentrierte Lösungen und Technologien für die Mensch-Maschine-Interaktion, die geeignet sind, die Stärken von Menschen und Maschinen zu verbinden und zu kombinieren.
- Bioinspirierte Technologien und intelligente Werkstoffe, die das Einbetten von Sensoren und fortschrittlichen Funktionen erlauben, aber zugleich recycelbar sind.
- Digitale Echtzeitzwillinge und Simulationen ermöglichen das Modellieren ganzer Systeme.
- Technologien für die Cyber-sichere Übertragung, Lagerung und Analyse von Daten, die die Interoperabilität von Daten und Systemen unterstützen.
- Künstliche Intelligenz, um beispielsweise Verluste in komplexen dynamischen Systemen aufzudecken und das Ergreifen von Maßnahmen zu ermöglichen.
- Technologien für Energieeffizienz und vertrauenswürdige Autonomie, z. B. die oben beschriebenen Technologien, benötigen große Mengen an Energie.
Während einerseits Stimmen laut werden, die auf die Beschleunigung der industriellen Automatisierung in Europa setzen, um global wettbewerbsfähig zu bleiben – es besteht ein deutlicher europäischer Konsens auch im Hinblick auf die Strategien für Investitionen in neue Technologien –, wäre es verheerend, wenn die anderen Aspekte wie die Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt außer Acht gelassen würden.
„Industrie 5.0 ist dadurch charakterisiert, sich nicht mehr auf die Herstellung von Waren und Dienstleistungen für den Gewinn zu beschränken. Das Konzept verlagert den Fokus vom Shareholder Value zum Stakeholder Value und betont die Rolle und den Beitrag der Industrie für die Gesellschaft. Das Konzept rückt das Wohlbefinden des Arbeiters in den Mittelpunkt des Produktionsprozesses und nutzt neue Technologien, um Wohlstand über Arbeitsplätze hinaus sowie Wachstum zu schaffen, dabei aber die Grenzen unseres Planeten zu respektieren. Es ergänzt das existierende „Konzept Industrie 4.0″, indem Forschungsanstrengungen unternommen und Innovationen entwickelt werden, um den Übergang zu einer nachhaltigen, auf den Menschen bezogenen und resilienten europäischen Industrie zu schaffen.“, Europäische Kommission
Berücksichtigung der Arbeitskräfte auf dem Weg zu einem nachhaltigeren und ausgewogeneren Arbeitsumfeld
In seiner 95-jährigen Geschichte wurde das U-Bahn-System in Barcelona viele Male erweitert. Das Netz hat derzeit eine Länge von 123,5 km, 11 Linien und 165 Stationen und deckt so den größten Teil des Stadtgebiets von Barcelona sowie der benachbarten Ortschaften ab. Die Automatisierung zählte von Beginn an zu den Hauptprioritäten.
Das Verhältnis zwischen der Geschäftsführung und den Gewerkschaften war immer gut, ungeachtet vereinzelter Streiks. Die Arbeiter werden früh genug informiert, wenn neue Automatisierungssysteme eingeführt werden. Wenn das Netzwerk erweitert wird, übernehmen die betroffenen Personen neue Verantwortlichkeiten, damit Entlassungen vermieden werden und die Anzahl der Arbeiter gleich bleibt.
„Die meisten Unternehmen haben der früher gut funktionierenden Herangehensweise den Rücken gekehrt. Statt in die Menschen zu investieren und sie nach ihren Ideen zu fragen, ihnen die Tools an die Hand zu geben, um digitale Lösungen zu entwickeln und ihnen den freien Umgang mit digitaler Technologie zu ermöglichen, konzentriert sich das Investitionsverhalten vollständig auf die Technologie selbst“, sagte Industrie-4.0-Experte Richard Allbert, der die digitalen Projekte des italienischen Reifenherstellers Pirelli mehr als 15 Jahre leitete. „Nutzen Sie die Kenntnisse Ihrer Arbeitskräfte. Die Ironie des digitalen Dilemmas besteht darin, dass viele Unternehmen, die nicht aus dem technischen Sektor stammen, über das jeweils benötigte Fachwissen verfügen – sie kennen den Prozess und das Produkt. Dies ist Ursprung der Ideen und Innovationen. Fragen Sie, was benötigt wird. Geben Sie ihnen die Werkzeuge an die Hand. Lassen Sie sie neue Ideen entwickeln und überlassen Sie ihnen die benötigten digitalen Lösungen.“
„Das Innovationstempo scheint nicht nachzulassen. [...] Investitionen in die Zukunft sind wichtiger als je zuvor, um die ökonomischen Folgen der Corona-Krise zu überwinden und eine neue Normalität zu erreichen – mit einer wettbewerbsfähigeren, nachhaltigeren und grüneren europäischen Industrie“, sagte Mariya Gabriel, EU-Kommissarin für Innovation und Forschung. „Wir befinden uns erst am Anfang dieses Übergangs. Der Erfolg ist von einem möglichst umfassenden Engagement und der Beteiligung aller Stakeholder abhängig.“
Auch in einer schlanken digitalen Fabrik müssen menschliche Expertise, Kooperation und Intuition signifikante Produktionsfaktoren sein. Die Entscheidungsfindung kann nicht nur Maschinen und Algorithmen überlassen werden. Wenn Unternehmen sich darauf konzentrieren, auf dem Stand der Technik zu bleiben, können sie die Auswirkungen auf ihre Arbeiter aus dem Blick verlieren.
Die jeweilige Geschäftsleitung muss befähigte Arbeitskräfte auszeichnen, die Experten auf ihrem Gebiet sind, und alle Mitarbeiter in der Fabrik dazu ermutigen, Ideen zur Verbesserung des Betriebs und ihrer Arbeitsplätze vorzutragen. Zudem sollten Unternehmen diese Arbeitskräfte mit den besten technologischen Werkzeugen ausstatten und sie in die Entscheidungsfindung einbeziehen.